Baikalsee Live


         
    Bericht 8 - 21.03.2008    
Heimtückische Eiswüste
 
 

Die gute Nachricht: Fisch steht wieder reichlich auf dem Speisplan.

 

Die Lösung: 10 Löcher im Abstand von 1,5 m durchs 1,2-m-dicke Eis bohren. Ein Seil mit einem Stein beschweren und etwa 3 m tief ins Loch hängen. Mit einem etwa 4-m-langen Draht mit Hacken, das Seil suchen und mit dem Stein als Widerstand aus dem nächsten Loch ziehen. Dieses Procedere 9-mal wiederholen, dann liegt das Seil unter dem Eis, und das Netz kann unterm Eis durchgezogen werden.

 

Mitte Februar ist das Eis so dick, dass ich einen mehrtägigen Ausflug in den Süden der Chiverkuj Bucht wage. Dort will ich in einer kleinen Holzhütte des NP übernachten.

 

Seit meinem Aufbruch am Morgen scheint die Sonne, jedoch von hinten bläst ein kalter Wind. Erst am Abend erreiche ich nach langem Suchen die versteckt liegende 3 x 4-m-große Hütte. Als erstes Feuer machen, kochen und dann mit Wolfsgeheul einschlafen.

Am nächsten Morgen kämpfe ich mich durch Tiefschnee Richtung Südufer. Dort stoße ich auf einen dreiköpfigen  Fischertrupp, der gerade ein 50-m-Netz mit bloßen Händen aus dem Eisloch zieht. 15 - 20 Hechte, Barsche und Äschen liegen bereits auf dem Eis. Einige zappeln noch, der Rest wird gerade schockgefroren.

 

Einer der gut aufgelegten Männer lädt mich zu Tee und Fisch - gefroren und gesalzen - in die 80-Jahre-alte Baracke am Südufer ein. Sie besteht aus einem etwa 15-m-langen Raum. In der Mitte steht ein großer Tisch, außerdem sind links und rechts an den Wänden Bettreihen mit je 10 alten durchhängenden, quietschenden  Metallbetten aufgereiht. Dahinter schließt sich die Küche an.  Hier hausen zurzeit vier Fischertrupps à drei Mann - äußerst einfach nach dem Minimalprinzip. Sie laden mich zum Übernachten ein. Ausgezeichnet, erstens ist es mit ihnen interessant, zweitens warm, drittens muss ich nicht kochen und viertens freue mich auf einen erholsamen Schlaf.

 

Doch die ersehnte Nachtruhe stellt sich nicht ein, denn ausnahmslos alle 12 Fischer schnarchen im Chor, teilweise sogar im Takt.

 

Aber ein gutes Frühstück mit viel heißem Tee und herrlich süßem, duftendem Hefeteig entschädigen mich. Reichlich versorgt mit solchen Leckereien als Wegproviant breche ich am nächsten Morgen um 7 Uhr 30 auf und entscheide mich für eine verlängerte Tour Richtung Westen - entgegen meinem ursprünglichen Plan. Ich laufe zum Ort Manachowa, der aus nur 2 Holzhütten besteht. Danach führt mich mein Weg weiter nach Norden über Katun und Kurbulik, zwei kleinen, entlegenen und einfachen Fischerniederlassungen mit insgesamt vielleicht 40 Häusern. Gen Osten gehe ich zurück zu meiner Jurte in der Omulbucht, wo sich nach sieben Tagen und 80 km auf Skiern der Kreis wieder schließt

 

Ermutigt durch diese kleine Tour, plane ich einen längeren Trip auf dem Eis. Anfang März möchte ich den Baikal von Ost nach West zu Fuß überqueren Die 100 km lange Route führt vom Ostufer bzw. von der Omulbucht über die auf halber Strecke liegende Wetterstation auf den Ushkani Inseln zu einer weiteren Wetterstation Solnzjanca am Westufer

 

Ausreichend warme Kleidung für bis zu -35 Grad, Schlafsack, Schlafmatte, Zelt, Kocher, Gas, Kerosin, Kochgeschirr, Beil, Thermoskanne und Verpflegung für zwei Wochen sowie Stativ, Kamera- und Videoausrüstung sind schwerer als gedacht. Da ich nicht alles tragen kann, muss ich die Ausrüstung teilweise auf einen kleinen Schlitten packen und diesen ziehen. Im tiefen Schnee und durch die Brucheisfelder ist er jedoch unbrauchbar.

Was nun?

In meiner Not schraube ich an eine Kunststoff-Proviant-Kiste ein Brett, das den Schnee niederdrückt und funktioniere diese Kiste zum Schlitten ohne Kufen mit tiefem Schwerpunkt und großer Auflagefläche um, um tiefes Einsinken zu vermeiden.

 

Soll ich mit Schuhen oder auf Skiern losziehen? Diese wichtige Entscheidung lässt mich nicht los. Eigentlich ist die Frage nicht zu beantworten, da ich die Eis- und Schneeverhältnisse draußen auf dem Baikal nicht kenne. Im Nachhinein war die Entscheidung für Skier die einzig Richtige.

 

Rucksack und Anhänger - voll bis zum Anschlag - warten auf den Start. Als ich morgens am Tag X aus der Jurte komme, stehe ich in 10-cm-hohem Neuschnee. Gift für meinen Anhänger. Jetzt brauche ich zum Ziehen noch mehr Kraft.

 
 
Schwer beladen
 
 

Obwohl die Sonne scheint, ist es kalt, und ich erreiche am Abend nach viel Plagerei eine verlassene Fischerhütte auf Kufen. Solche etwa 2 x 2-m-großen Holzschachteln mit Flachdach werden von einem Eisloch zum anderen gezogen. Ihr Boden ist teilweise offen, um in den gebohrten Eislöchern zu fischen. Eine Schlafgelegenheit für alle Fälle ist auch vorgesehen. Diese Holzschachtel wird also mein Nachtlager, denn so brauche ich kein Zelt aufzubauen.

 

Erschöpft falle ich sofort in einen Tiefschlaf, deshalb brauche ich einige Zeit, um ein Poltern zu realisieren. Erst als ein Mann mich schüttelt und mir mit der Taschenlampe ins Gesicht blendet, komme ich zu mir. Im ersten Moment weiß ich nicht einmal, wo ich bin und was los ist.

 

Zwei Männer beugen sich über mich und wollen wissen, was ich alleine hier draußen mache? „Tourist aus Deutschland“, genügt ihnen, und sie fahren wieder hinaus in die Vollmondnacht. Es ist 3 Uhr und das Thermometer zeigt -25 Grad. Ich bin beruhigt, dass ich bei dieser Kälte in meinem Schlafsack nicht friere und schlafe schnell wieder ein.

 

In den nächsten beiden Tagen muss ich zwei große Brucheisfelder aus über- und ineinander verkeilten Eisplatten überqueren oder wenn dies nicht möglich ist, umlaufen. Diese Torres, wie es die Einheimischen nennen, fordern alles.

 

Plötzlich taucht ein großer teurer Toyota Geländewagen aus dem Nichts auf und ein dunkel gekleideter Mann springt heraus. Mit gütigem Blick schaut er mich an, spricht ein kurzes, mir unverständliches Gebet und segnet mich. Ich muss einen bemitleidenswerten Eindruck machen, denn am Ende schenkt mir der orthodoxe Pope außer Gottes Segen auch noch eine Bibel und bekreuzigt mich. Er verschwindet wie gekommen im Nichts.

 

Habe ich jetzt geträumt oder war das eine Halluzination? Aber ich halte eine echte Bibel in der Hand. “Gottes Wege sind unergründlich“, denke ich mir und stecke die Bibel in den Rucksack. Ich frage mich, ob Gott das Gebet des Popen auch erhört hat, denn danach wird das Wetter schlechter, und kalter Wind peitscht mir von vorne entgegen. Jetzt ist ein Laufen ohne Gesichtsmaske unmöglich geworden. Aber auch mit Maske sticht der Wind in die ungeschützte Augenpartie mit abertausend  Nadeln. Zum Glück hat der Wind abends Erbarmen mit mir, ich kann mein Zelt aufbauen und Essen kochen.

 

Heute war ich sehr fleißig und habe trotz breiter Eiskristallfelder, 18 km geschafft. Obwohl es so aussieht, als ob die Felder aus Schnee bestehen, sind es Kristalle, die auf dem Eis bis zu 10 cm Hochwachsen. Sie sind stumpf, und mein Anhänger rutscht darauf sehr schlecht.

 

Der direkte Weg zu den Ushkani Inseln ist noch 20 – 25 km. Das bedeutet, morgen sehr zeitig aufstehen, wenn ich nicht eine weitere Nacht auf dem Eis schlafen will. Deshalb kuschle ich mich zeitig in den Schlafsack. An das Knallen und Donnern unter mir habe ich mich gewöhnt. Aber hier vor den Inseln ist das Schieben und Brechen des Eises vor allem nachts extrem laut.

 

5 Uhr 30 und der Wecker rasselt. Schon um 7 Uhr 30 spanne ich mich wieder vor meinen Anhänger und hoffe, dass der Rucksack die Zugbelastung der zwei Seile aushält.

 

Mit festem Blick auf die Inseln laufe ich – heute ohne Wind und ohne Unterbrechung - bis zum Mittag durch. Nach einer kurzen Pause mit Tee, zwei Mars und einem Snickers beginnen meine Fußsohlen zu brennen. Nach einer Weile gesellt sich von beiden Fußballen stechender Schmerz dazu. Aber ich habe die Inseln mit einem warmen Zimmer und Bett vor Augen. Alles andere streiche ich aus meinem Kopf und ist somit nicht vorhanden!

 

Die Sonne lässt die wunderschöne, ewig weite Schnee- und Eislandschaft glitzern, als wären lauter Diamanten ausgestreut. Diese außergewöhnlichen Anblicke halten mich trotz der Anstrengung bei guter Laune: ein Eishorizont, wie mit dem Lineal gezogen und 1,2 m unter meinen Füßen, der tiefste See dieser Erde. In dieser kalten atemberaubenden Welt, in der der Himmel von orange bis Zyan leuchtet, wird ein kleiner Mensch zum Nichts und unbedeutend.

 

Nach 23 km ohne Torres erreiche ich am Abend mit Blutblasen an Fußsohlen, Ballen und der Ferse, die Ushkani Inseln mitten im Baikal.

 

Die große Ushkani Insel ist als einzige bewohnt. Drei Menschen leben hier - Jura und seine Frau Tatjana seit 21 Jahren und Viktor, der Gehilfe seit 17 Jahren. Sie arbeiten in der kleinen Wetterstation und müssen alle 6 Stunden die aktuellen Wetterdaten per Funk nach Irkutsk melden.

 
 
Torres
 
 

Auf der Insel dann der Schock. Meinen weiteren Weg zum Westufer, also zu meinem Ziel, versperrt ein 10 km breites, riesiges Torresfeld und macht ein Weiterkommen unmöglich, erklärt mir Jura. Unglücklich und erschöpft schlafe ich in einem weichen Bett und warmen Zimmer der Wetterstation ein. Erst der Generator der 1930 errichteten Wetterstation rattert mich am späten Morgen aus dem Tiefschlaf. Ich will und kann hier auf halber Strecke mitten im Baikal nach über 60 km Strapazen und vielen Umwegen nicht aufgeben. Ich muss mir unbedingt mit eigenen Augen ein Bild von der Eissituation machen.

 

Vor dem Haus steht ein neuer UAZ Geländewagen und ich frage Jura, ob das Fahren zum Westufer möglich ist. „Ja, aber nur sehr schwierig mit einem großen Bogen Richtung Süden und Umfahren der Torres“.

 

Ich möchte mit Jura nach Solnzjanca fahren, um selbst zu sehen, wie die Eisverhältnisse sind. Ist ein Laufen mit meinem Anhänger unmöglich, werde ich wieder mit zu den Ushkani Inseln zurückfahren und meine Tour abbrechen.

 

Also starten wir am nächsten Morgen. Jura fährt mich zur Wetterstation Solnzjanca am Westufer. Die ersten 10 km fahren wir durch Brucheisfelder, die ich wahrscheinlich teilweise umlaufen kann. Dann passieren wir 25 - 30 km Schneefelder mit teilweise blankem Eis.

 

In Solnzjanca angekommen, muss ich mich entscheiden. Es wird schwierig werden, aber ich will es versuchen. Die Autospur der Herfahrt wird mich zurückführen.

 

Ich lade meine Siebensachen aus dem UAZ und ziehe für einen Tag in das Haus von Natascha, einer Meteorologin. Jura fährt wieder zurück.

Von der Wetterstation Solnzjanca, wunderschön gelegen und zugleich Enklave, in der fünf Menschen leben, breche ich am nächsten Morgen um 7 Uhr auf.

Zu den Ushkani Inseln zurück sind es Luftlinie 35 - 40 km, mit Umwegen entsprechend mehr. Heute ist mein Ziel, Laufen bis zum Sonnenuntergang bzw. so weit die wieder etwas erholten Füße tragen.

 

Über Schnee und blankes Eis komme ich zügig vorwärts. Die Fußschmerzen halten sich in Grenzen, und ich errichte mein Zelt am Abend nach ungefähr 25 km wieder einmal auf dem Eis. Mich beunruhigt, dass ich die Spuren von Juras  UAZ im teilweise blanken Eis nicht gefunden habe. Mein Gefühl sagt mir, dass ich vielleicht zu weit nördlich bin. Ich kann nicht sehen, wie das Eis 3 km weiter beschaffen ist, denn der Horizont ist ein gerader Strich.

 

Wenn ich die nächste Nacht auf den Ushkani Inseln schlafen will, muss ich wie immer zeitig aufstehen. Also raus aus dem Schlafsack in die Kälte und losmarschiert. Gegen 11 Uhr werden meine Befürchtungen wahr, ich laufe viel zu weit nördlich. Denn nun stehe ich vor einem Torresfeld, das vor mir 10 km bis zum Horizont reicht. Weder im Süden noch im Norden sehe ich eine Umgehungsmöglichkeit.

 

Ich könnte weinen und würde mich am liebsten auf die Ushkani Inseln beamen, denn ich weiß, was mich jetzt erwartet: unsicheres Rutschen mit den Skiern über die Eisschollen und heftiges ruckartiges Ziehen des Anhängers, wenn er in einer Spalte steckt, immer wieder zurück und den Anhänger aufstellen, der ständig an den Schollen umkippt, auf keinen Fall mit dem schweren Rucksack fallen und sich womöglich etwas verstauchen oder gar brechen, denn wer sollte mir hier helfen?

 

Bei den letzten Kilometern muss ich wegen höllisch schmerzender Füße und nachlassender Kraft alle 100 m, fünf Minuten Pause machen, und die Insel will und will nicht näher kommen.

 
 
geschafft
 
 

Spät am Abend erreiche ich mit letzter Kraft und wimmernden blutigen Füßen die Ushkani Inseln. Das Unglaubliche ist in 12 Tagen und nach ca. 120 - 130 km geschafft. Ich habe den Baikal von Ost nach West zu Fuß überquert.

 

Ausgemergelt, aber zufrieden falle ich ins Bett und träume von Eisbären mit großen Blutblasen an den Pfoten.

 

Am nächsten Tag fahre ich mit einem Fischer zur Jurte zurück.

 

Bis in 6 Wochen

Werner

 

             

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